Mittwoch, 11. Juli 2012
Friedo Lampe: Das Gesamtwerk
In einem anderen Buch fanden sich von dessen Ich-Erzähler bewundernd vermerkt die Zeilen:

"Heute hat mich die Erinnerung an einen deutschen Schriftsteller überfallen: Er hieß Frido Lampe. [...] Frido Lampe. Am Rande der Nacht. Dieser Name und dieser Titel ließen mich an erleuchtete Fenster denken, von denen man den Blick nicht losreißen kann. [...] Frido Lampe war 1899 in Bremen geboren, im selben Jahr Ernest Bruder. [...] Der Politik stand er gleichgültig gegenüber. Was ihn interessierte, war, die Abenddämmerung zu beschreiben, die über dem Bremer Hafen herabsinkt, das weiß-lila Licht der Bogenlampen, die Matrosen, die Catcher, die Orchester, das Klingeln der Trambahnen, die Eisenbahnbrücke, die Dampfsirene und all die Leute, die in der Nacht einander suchen...".*

Im Antiquariat fand sich nun Frido Lampe - Das Gesamtwerk mit kurzen Geschichten, die er zu Lebzeiten veröffentlichen konnte als auch dem ein oder anderen aus seinem Nachlass. Es ist ein beachtliches Werk verschiedener Bücher, dessen Autor in ähnlicher Weise wie Irmgard Keun mit ihrem Das kunstseidene Mädchen eine Bestandsaufnahme liefert, das Leben beschreibt, seine Stadt in Worte fasst. Auf mitunter anrührende Weise dokumentiert es nicht, sondern nimmt seine Leser selbstverständlich einladend mit hinein in eine vergangene Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg; gerade so, als lächele ein anderer Gast im Biergarten den Neuankömmling an, dabei auf den freien Platz neben sich klopfend und ihn einladend sich hinzuzusetzen. Kein großes Gewese, sondern Situationen und Augenblicke beschreibend, kurze - manchmal nur Stunden währende - Einblicke in Lebensabschnitte. Ob es sich hierbei nun um Fiktion handelt oder um nonfiktionales Erzählen, die Figuren erdacht oder an bestehende Personen angelehnt sind - es bleibt egal. Das Leben in seinen unterschiedlichen Ausprägungen für Bürgertum, Arbeiter, Frauen, Kinder oder Künstler, so wird rasch deutlich, ist hier eingefangen und "verwortet" worden. Die Personen treten dahinter zurück.

Ein wunderbares Stück Literatur eines leider fast völlig in Vergessenheit geratenen Autors.

(* Auszüge aus Patrick Modiano, Dora Bruder, München 2001, S. 104f.)

... link (0 Kommentare)   ... comment


Freitag, 23. März 2012
Das Glück in glücksfernen Zeiten
Wilhelm Genazino hat bei dtv im Jahr 2011 einen Roman veröffentlicht mit dem Titel Das Glück in glücksfernen Zeiten. Ein Buch, in dem der Ich-Erzähler - Gerhard Warlich - aus seinem Leben als promovierter Philosoph, der in Ermangelung akademischer Karriereaussichten aus einem Gelegenheitsjob eine Vollbeschäftigung machte und inzwischen in einer Wäscherei als Geschäftsführer den Laden schmeißt, Einblick in sein Leben gewährt. Den Lesern öffnet er sich in seinen Tätigkeiten und Gedanken. Sie werden gewissermaßen zu Hospitanten seines Lebens. Dieses erscheint zunächst wenig ereignisreich - es sind vor allem die von ihm selbst im inneren Dialog formulierten Gedankengänge, die das aufregendste an Warlichs Leben zu sein scheinen. - Zwei Ereignisse aber, nachgerade alltäglicher Natur und als solche nicht unbedingt prädestiniert, jemanden "umzuhauen", sollen ihn sein Leben, seinen Lebensweg, seine Zukunft überdenken lassen. Ausgang offen. Irgendwann blendet das Buch ebenso überraschend, wie es auf diesen Einen unter vielen Menschen fokussierte, auch wieder aus. Der Vorhang schließt sich wieder.

Genazino nimmt seine Leser auf leise Weise mit in das Leben seines Romanhelden, lässt ihn diesen in all seiner Unsicherheit kennenlernen. Er wählt dabei eine fantastische Sprache, welche die Situation von Warlich sprachlich aufgreift, seine Person abzurunden scheint.

Ein großartiges Buch, das ohne Effekthascherei die Frage nach Lebenssinn stellt - und aufzeigt, dass diese Frage nur wenn, dann nur individuell von und für jedem/jeden Einzelnen beantwortet, möglicherweise aber überhaupt nur als lebenslange Suche verstanden werden kann.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 29. Februar 2012
Sittenlehre
Disziplin, Züchtigkeit, Regeln, Misstrauen, Pflichterfüllung, Ordnung, Exaktheit, Kontrolle. Es sind Worte dieser Couleur, welche den Gegenstand dieses Buches des argentinischen Autors Martín Kohan skizzieren.
In seinem 2007 erschienen Roman Ciencias morales, der im Deutschen unter dem Titel Sittenlehre bei Suhrkamp verlegt wird, skizziert er das Leben der María Teresa. Die junge Frau arbeitet als Aufseherin am Colegio National, einer überaus strengen und vor Tradition strotzenden Eliteschule in Buenos Aires. Ihr und ihren Kollegen obliegt es, die Einhaltung und Befolgung der zahlreichen Vorschriften, Regeln und Anordnungen durch die Schüler sicherzustellen. Ohne Ausnahmen, ohne Barmherzigkeit, ohne Augenmaß. Es geht um die totale Kontrolle. –

Jenseits der nachgerade hermetisch von der sie umgebenden Stadt abgeriegelten Schule herrscht das Militär, Argentinien wird von einer Diktatur regiert. Man schreibt das Jahr 1982, der Falklandkrieg bestimmt das Leben der Menschen. Auch María Teresas Bruder wurde eingezogen. Dieser meldet sich bei Mutter und Schwester lediglich sporadisch, indem er Postkarten ohne offensichtliche Nachrichten sendet, worin sich die Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit dieses Krieges spiegeln mag.

Als Erzählpersperspektive wählt der Autor die der jungen Aufseherin. Es berichtet aber nicht María in der Ich-Form, sondern der Autor steht gewissermaßen unmittelbar ihr zur Seite, weiß auch um ihre Gefühle und Gedanken – ihre Perspektive wird angereichert mit darüber hinaus reichenden, erweiterten Feststellungen.
Es beruht auf dieser Erzählweise, dass der Bruch zwischen der von María erlebten und der vom Leser erkannten Wirklichkeit gewaltig ist. Es wird alsbald überdeutlich, worum es am Elitegymnasium geht: es dient der jeweils herrschenden Klasse als Kaderschmiede und mithin steht es im Dienst der jeweils herrschenden Elite. 1982 ist dies ein Militärregime, und dessen Auswirkungen auf den Schulalltag – Apelle, Drill, Exerzieren, Gehorsam, Patriotismus – sind unverkennbar.

In diesem Kosmos bewegt sich die junge Frau. María Teresa ist autoritätshörig, verfügt über eine nur geringe Bildung und ist überaus pflichtbewusst. Im wahrsten Sinne des Wortes „eifrig“ tut sie ihren Dienst als Aufseherin und ist bestrebt, keinen Fehler zu übersehen. Insbesondere während der Pausenzeiten hat sie ihrer Pflicht nachzukommen. Hinzu kommen die Überwachung des Ablaufs des Appells, Kontrolle von Haarlängen, Strumpffarben, korrekter Ausrichtung von Augen. Sie stellt somit eines der funktionierenden Rädchen im Schulgetriebe dar, welche in ihrer Summe ein solches System ermöglichen und am Laufen halten. Voller Misstrauen gegenüber den Schülern, sind überall Verstöße gegen die Ordnung zu vermuten. Selbst ein Lächeln gibt zur Frage Anlass, was dessen Ursache und Wirkung, die Motive des Lächelnden sein mögen. Die Ordnung zu erhalten, ist alleiniges Ziel.

In ihrem glühenden Eifer ist es ihr persönlicher Ehrgeiz, sich in den Dienst dieser – oder überhaupt einer – Ordnung und der Korrektheit am Colegio zu stellen.
Es ist ihre Aufgabe, die Ordnung zu garantieren, und diese Ordnung bietet ihr Sicherheit und Existenz, mithin Halt. Diesen findet sie weder bei ihrer Mutter noch bei ihrem Bruder. Ihr unbedingter Wille zur Pflichterfüllung verbindet sich zusätzlich mit dem Drang nach Anerkennung. Diese sucht sie bei ihrem Vorgesetzten, dem Oberaufseher Biasutto. (Von dessen Vorgeschichte ist lediglich bekannt, dass er ehedem ‚Listen zusammenstellte‘. In der Geschichte Argentiniens Auskunft genug, dass es sich um einen Schergen des Regimes handelt, das zahllose Menschen ‚verschwinden‘ ließ.) Um diesen zu beeindrucken, wagt sie einen für sie großen Schritt und betritt unbekanntes Terrain: den Toilettenraum der männlichen Schüler. Sie tut dies, um dort – versteckt in einer Kabine – einen Schüler inflagranti des Rauchens zu überführen. Nahezu besessen von diesem Gedanken verbringt sie zunehmend mehr Zeit dort; der Fokus des Buches wie auch der ihrer Existzenz verengen sich hierauf. Zugleich erweitert sich an diesem (Ab)Ort ihr Horizont, erwachen in ihr voyeuristisch-sexuelle Gefühle.

Es ist schließlich aber auch der Ort, an dem sie selbst Opfer ihres falschen Pflichtgefühls und ihrer Autoritätsgläubigkeit, ja, ihrer Autoritätshörigkeit wird.
Ohne diese Vorbedingungen, so die den entsprechenden Szenen immanente Aussage, kann kein Obrigkeitsstaat funktionieren. Der Autor ist hierin nicht zynisch, vermag aber aufzuzeigen, dass diejenigen, die der Macht als schwächstes Glied dienen, just in ihrer Pflichterfüllung häufig größter Schutzlosigkeit und damit Willkür, der Gefahr der Vernichtung ausgeliefert sind – wie eben María.

Das Ende der Diktatur, das Ende des Krieges wird von Kohan auf gänzlich unspektakuläre Weise, aber durchaus prononciert in seinem Roman verarbeitet: Wiewohl ein ganzes System sich ändert, ein Wandel sich vollzieht, zeigt er, dass dies nicht zwangsläufig zu irgendeiner Form gründlichen moralischen Reinemachens führt: Ein System verschwindet; es wird durch ein anderes ersetzt. Nach der Niederlage der Armee wird die Schule für wenige Tage ohne weitere Erläuterungen geschlossen. Bei ihrer Wiedereröffnung stellt man fest, dass alle Angehörigen der Schulleitung ausgetauscht wurden. Die Führungselite ist ins Unbekannte verschwunden. Die sich aufdrängende Frage nach dem Wohin lässt Kohan unbeantwortet – und macht so umso deutlicher, dass sie aus diesem unbekannten Ort jederzeit wieder hervortreten können.

Martín Kohan hat einen großartigen Roman geschrieben. In seiner zuweilen technokratisch, emotionslosen Sprache mutet der Roman immer wieder als sprachlicher Ausdruck von Horror, geistiger Enge und Systemglauben an. Er führt mit seinen Beschreibungen von Regeln, Situationen und Orten vor Augen, dass es bei María Teresa letztlich eben nicht um ein freies Individum, sondern um eine Gefangene eines Systems geht. Damit macht Kohan nicht die unmittelbaren Opfer der Tyrannei zum Thema seines Buches, sondern die Frage nach den Umständen und Vorbedingungen, auf denen die Herrschaft der Militärs ruhte. Er spürt dieser Frage nach, indem er nicht vom System auf die Menschen schließt, sondern anhand eines sehr kleinen, aber doch individuellen Gliedes in dessen Kette die menschliche Natur zu erfassen sucht.
Er interessiert sich für María als Frau mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten, die in naiver Weise das Geschehen um sie nicht hinterfragt, wiewohl sie hie und da zu erahnen scheint, dass nicht gut ist, was ist. Sie erscheint darum auf plausible Art als einfache, aber für das System unabdingbare Mitläuferin. In diesem Charakter klagt Kohan nicht an, aber er zeigt auf, wie schnell aus Mitläufern und Opportunisten Opfer werden können. Es ist jeder Leserin und jedem Leser überlassen, hieraus eigene Schlüsse zu ziehen. Den moralischen Zeigefinger bringt der Autor zu keiner Zeit an.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 15. Februar 2012
Der Mann im Strom
Gelegentlich fallen im Buchregal Bücher auf, die schon vor langer Zeit geschrieben, seither aber von ihrem Besitzer noch nicht gelesen wurden.

So ein Werk ist zum Beispiel Siegfried Lenz' Der Mann im Strom. Bereits im Jahr 1957 erschienen, zeichnet dieser Roman auf etwa 150 Seiten die Lebenswirklichkeit eines Tauchers, der in seinem Beruf alt geworden ist und aufgrund der gesetzlichen Vorgaben bald nicht mehr als Taucher arbeiten darf. Nach jahrelanger Tätigkeit unter Wasser haben die damit einhergehenden Belastungen Spuren am und im Körper hinterlassen. Der Taucher ignoriert diese Warnzeichen und setzt alles aufs Spiel, um seine Arbeitserlaubnis zu behalten: er fälscht sein Geburtsdatum. "Er tut dies mit der Entschlossenheit und Überlegung eines Mannes, der seine letzte Chance wahrnimmt," wie es im Klappentext zum Buch heißt.
Die Geschichte ist knapp geschrieben, den Lebensumständen und dem Charakter des Mannes entsprechend. Karg, entschieden. Weder Lenz noch seine Romanfigur machen viele Worte. Gerade darum aber entfaltet der Roman eine große Kraft, bietet Hinrichs in seiner hanseatischen Verlässlichkeit einen Kompass für menschlichen Anstand, zeigt sein Verhalten das Dilemma in dem er sich befindet: die Notwendigkeit, für seine Kinder und sich zu sorgen und den ihm gesetzten Grenzen. Indem Lenz zugleich die Geschichte eines jüngeren Mannes erzählt, der an Hinrichs Tochter interessiert ist und sich alsbald als ebenso schmieriger wie windiger Charakter entpuppt, stehen sich pars pro toto zwei Typen einer Gesellschaft gegenüber. Lenz macht deutlich, wem seine Zuneigung gilt ohne aber das Leben dieses Hinrichs zu einem heldenhaften zu stilisieren. Es ist ein ruhiges, ein nachdenkliches Buch, das in Zeiten von - wenngleich inzwischen leiser werdendem - Jugendwahn und verwässernder Familien- und gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen nach wie vor zum Innehalten und zur Reflektion einlädt.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 14. März 2011
Die Känguru-Chroniken
Wenn es an der Wohnungstür klingelt, ein Känguru davorsteht und um diverse Zutaten für einen Kuchen bittet, die es noch nicht in der frisch bezogenen Wohnung gegenüber habe, ist das der Auftakt zu einem Buch, bei dem man sich zunächst denkt, ob es heiter vergnüglich zu lesen sein wird oder eher in die Kategorie müden Klamauks einzuordnen ist.

Marc-Uwe Kling schreibt in seinem Buch Die Känguru-Chroniken in über 80 Kurzkapiteln, die jeweils für sich stehen, von seinem Leben mit dem Känguru, das schließlich bei ihm einzieht, das er finanziert und offenkundig in sein Herz schließt. Das Känguru kann sprechen und hat eine dezidiert politische Haltung, die man getrost als links klassifizieren kann. Es führt ein recht angenehmes Leben auf Kosten seines Gastgebers, der finanziell für seinen Mitbewohner aufkommt, es aushält, mit ihm die üblichen "Linken-WG-Diskussionen" führt und gemeinsam mit ihm auf Demos geht. Die Stärke des Buches liegt dabei in der (selbst)ironischen Weise der Betrachtungen linken Lebenswandels und Denkens: Einerseits den Kapitalismus verfluchen, anderseits ihn ausnutzen (um ihn dadurch zu schwächen). Dies geht gepaart mit enormem Sprachwitz, unterschiedlichen Sprachstilen und einer Menge völlig unterschiedlicher Szenen und toller Ideen, welche der Autor in seinen Kapiteln vorstellt.

Dieses Buch ist allen zu empfehlen, die Spaß an feiner Ironie und augenzwinkernden Erzählungen haben. Aufgrund seiner Unterteilung eignet es sich als Bettlektüre für all jene, die immer nach drei Seiten einschlafen oder für solche, die als Pendler kurzweiligen Zeitvertreib suchen. Oder solchen, die gerne mal wieder Schmunzeln möchten, während sie ein Buch lesen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 11. September 2010
Dora Bruder
Eine unbekannte Frau namens Dora Bruder steht im Mittelpunkt dieser kurzen Erzählung des französischsprachigen Autors Patrick Modiano:

Der Ich-Erzähler stößt zufällig auf sie, als er in einer 50 Jahre alten Zeitung aus dem Jahr 1941 eine Vermisstenanzeige liest, welche der 15-Jährigen nachspürt. Da die Gegend, in der das Mädchen seinen Lebensmittelpunkt hatte, dem Erzähler aus dessen Kindheit noch in klarer Erinnerung ist, weckt diese Vermisstenanzeige sein Interesse. Er macht sich auf die Suche nach Spuren Doras. Stück für Stück vermag er Abschnitte ihres Lebens, ihrer Lebensumstände und des Paris des Jahres 1941 zu rekonstruieren. Indem er Zeitungsausschnitte und vor allem Akten des Polizeiarchivs akribisch durcharbeitet, entsteht für ihn wie für den Leser ein facettenreiches Bild, das ebenso das Leben eines jungen jüdischen Mädchens im Paris der Vorkriegszeit wie und vor allem im von den Deutschen besetzten Paris darstellt. Indem der Autor dabei die Orte der Dora mit jenen der Erinnerung und Gegenwart des Erzählers verknüpft, schlägt er gekonnt eine Brücke über die Jahrzehnte hinweg. Auf diese Weise schafft er eine Nähe zu Dora, die sich nicht aufdrängt, der sich aber weder der Erzähler noch der Leser entziehen kann.

Modiano beschreibt ohne großes Getöse, dafür in wohl gewählten Sätzen und Szenen, wie sich das Leben der Dora und der gesamten Familie Bruder zusehends verdüsterte und sie schließlich dem Terror der Nazis wie auch ihrer französischen Helfershelfer zum Opfer fielen und ausgelöscht wurden.

Ein großartiges, aber leises Stück Literatur, das auf seine Weise einen wichtigen Beitrag wider das Vergessen und für das Gedanken leistet. Sehr zu empfehlen all jenen, die der zeigefingerführenden Literatur überdrüssig oder nicht von der erinnerungsbombastischer Literatur zum Thema erschlagen werden wollen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 7. August 2010
Martin Suter: Der Koch
Um es gleich vorweg zu nehmen: OSKAR ist nach der Lektüre - und eigentlich war er es schon weit vor Ende - des neuen Buches von Martin Suter enttäuscht. Es scheint, dass der Autor von Small World, Der letzte Weynfeldt, Lila Lila oder Die dunkle Seite des Mondes mit wenig Begeisterung seine Romanseiten füllte.

Der Koch ist die Geschichte des vor dem Krieg in seiner Heimat geflohenen Tamilen Maravan, der nun in der Schweiz lebt. Geschildert wird sein Leben in der Zeitspanne März 2008 bis März 2009. Nach seiner fristlosen Entlassung als Küchenhilfe gründet er, der in seiner Heimat das Kochen als sinnliche Kunst erlernte, gemeinsam mit einer ehemaligen Kellnerin desselben Restaurants den Cateringservice Love Foods. Maravans Kochkünste nämlich vermögen die Gefühle derart in Wallung zu bringen, dass auch Paare, die seit langem kein Feuer mehr verspüren, wieder große Lust aufeinander bekommen. Das Geschäft - anfänglich für Maravan schwer zu akzeptieren - wird aber allmählich zu einem Dienstleister im Escortbereich der gehobenen Gesellschaft und sein Ehrgefühl als Koch und als tamilischer Mann damit auf eine schwere Probe gestellt, da die Kunden ihn nun als "Sexkoch" ansehen und sein Können unter dem Gesichtspunkt ihrer sexuellen Potenz beurteilen.

In diesem Setting verknüpft Suter handwerklich gekonnt, aber ohne Würze, Realität und Fiktion. So flicht er immer wieder verschiedene Ereignisse der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie des Atomskandals in der Schweiz ein. Insbesondere Herr Dahlmann, zwielichtige Figur und im Wesentlichen Vermittler von Kontakten, bildet dabei die Verbindung zur fiktiven Geschichte Maravans. Wobei es augenfällig ist, dass Maravan stellvertretend für viele im Exil lebende alleinstehende Tamilen steht. Allein in einem in allem fremden Land, in der die Diasporagemeinschaft umso enger zusammenrückt - was auch eine starke soziale Kontrolle bedeutet. Es wundert daher wenig, wenn eine junge Frau tamilischer Abstammung auftaucht, die jedoch vollkommen in der schweizer Gesellschaft verankert und zugleich den Sitten und Traditionen ihrer Eltern verhaftet ist. Maravan und sie verlieben sich - gegen allen Widerstand der Eltern der jungen Frau. Dieser rührt aus dem Kastendenken ("man muss eben aus der richtigen der abgeschafften Kasten stammen") sowie aus der Tatsache, dass es traditionell die Eltern sind, welche eine Ehe anbahnen.
Schließlich erzählt Suter von Maravans Familienbande, die sehr stark ist und ihn um seine Verwandten in der Heimat bangen lässt. Er schickt ihnen von seinem Einkommen, muss aber zugleich die auch im Exil tätigen "Tamil Tigers" finanziell unterstützen, die ihn unverholen erpressen.
Suter mag all diese Aspekte aus edlen Motiven aufgreifen, es wirkt aber leider pflichtschuldig, wenn er hinsichtlich Maravans Familie und des Krieges in Sri Lanka von Kindersoldaten und der Ignoranz der westlichen Gesellschaften gegenüber diesem schmutzigen Krieg schreibt.

Alles in allem weiß der Autor, welcher Rezeptur er zu folgen hat, um einen ordentlichen Roman zu komponieren. Und ein ordentlicher, bodenständiger Roman ist es ohne Frage. Wie aber auch ein Gericht unterschiedlich schmecken und unterschiedlich sättigen kann, so bleibt Der Koch weit hinter den Erwartungen und den bisher vorgelegten Büchern von Martin Suter zurück. Handwerklich sauber, aber leidenschaftslos gearbeitet, so der Eindruck. Es ist bedauerlich, dass er aus diesem Stoff nicht mehr gemacht, seiner Geschichte nicht mehr Schärfe und damit Würze verliehen hat. Was bleibt, ist daher ein etwas fader Nachgeschmack. Schade!

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 19. Juli 2010
Beat the Reaper
OSKAR las vor einiger Zeit eine Rezension in seinen Mikrokosmos bildenden Süddeutschen Zeitung. Das Buch war eine Übersetzung aus dem Englischen und hörte sich sehr gut an. Nun will er nicht immer nur im täglichen Einerlei verharren und so marschierte OSKAR frohen Mutes in die Buchhandlung seines Vertrauens und bestellte sich das Buch - im Original: Beat the Reaper von Josh Bazell.

Ein irres Buch. Abgefahren. Vor allem aber ein Englisch, das OSKAR in der Schule so nie gelernt hat, das aber durch eine Fülle von lebensnahen Ausdrücken und Wendungen besticht, das es ihm froh ums Herz wurde... Allerdings nicht immer im Zeichen von guten Sitten formuliert. Wie überhaupt die Geschichte und ihre Erzählweise sich an gängige Vorstellungen von Moral, Anstand und gute Sitten hält. Worum geht es also?

Im Wesentlichen wird die Geschichte eines Mafiakillers a.D. erzählt. Nach unzähligen Morden mehr oder weniger im Auftrag des Familienoberhauptes, das ihn in seine Obhut genommen hatte, gerät er in Konflikt mit seinem engen Freund und Gefährten – Sohn eben jenes Oberhauptes. Im Zuge einer misslungenen Aktion wird er verhaftet. Schließlich sagt er aus und wird in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. So kommt es, dass ein Mafiakiller die Seiten wechselt und im Krankenhaus als Artz tätig ist. Der Ich-Erzähler schreibt abwechselnd von seinem zuweilen bizarr anmutenden Krankenhausalltag und retrospektiv über seine Vergangenheit, die ihn ins Krankenhaus geführt hat. Beide Stränge überkreuzen sich, als der Arzt auf Visite urplötzlich einen Bekannten aus seiner Vergangenheit als Patienten vor sich entdeckt. Ab diesem Augenblick werden temporeich, witzig, aber zugleich auch abgebrüht brutal zwei Handlungsstränge verfolgt, bei denen derart viel geschieht, dass dem Leser der Schädel zu brummen beginnt.
Ein Buch, das viele Facetten in sich vereint und schwer zu fassen ist. Komisch, aberwitzig, nachdenklich, zynisch, gesellschaftskritisch – und dabei sehr unterhaltsam. Wer es aber in Gänze genießen möchte, der sollte sich ernsthaft überlegen, es vielleicht doch auf Deutsch zu lesen: viele Passagen leben vom Wortwitz und ausgeprägtem Slang, der nicht ohne weiteres verständlich ist.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 7. April 2010
Der Mann schläft
Ein Frauenroman. Ohne Frage. Ein Roman von einer Frau geschrieben. Ob sie aber tatsächlich auch für ein vornehmlich weibliches Lesepublikum schrieb, muss bezweifelt werden.

Sibylle Berg hat einen Roman geschrieben, der im Hanser Literaturverlag erschienen ist und den schlichten Titel Der Mann schläft trägt. Unprätentiös wie der Titel erscheint auch das gesamte Buch. Um es knapp zusammenfassen, bräuchte es nicht mehr als den Hinweis, dass eine Frau sich unerwartet und jenseits ihrer Blüte eine (neue) Liebe leben darf, sich geliebt fühlt, ihr der Geliebte auf unerklärliche Weise abhandenkommt, sie aus dem Gleichgewicht gerät und Rückschau auf ihr Leben hält. Es wäre eine Zusammenfassung, aber sie würde dem, was das Buch eigentlich ausmacht, in keiner Weise gerecht. Dieser Plot nämlich dient der Autorin lediglich als Aufhängung dessen, was sie an Gedanken zu zentralen Fragen des Lebens formuliert.

In „Der Mann schläft“ berichtet die Ich-Erzählerin von unterschiedlichen Lebensphasen. Diese lassen sich grob in diejenige vor der Begegnung mit dem Mann, die gemeinsame Zeit mit und die Zeit nach dem Mann unterteilen.
Wiewohl die Chronologie erkennbar bleibt, schreibt Sibylle Berg schlaglichtartig in knapp gehaltenen Kapiteln von jeweils unter zehn Seiten und lässt hierbei konsequent einem jeden Abschnitt ‚Damals‘ ein Kapitel ‚Heute‘ folgen. Unter dem ‚Damals‘ fasst sie dabei die Zeit bis zum Verlust des Mannes, das ‚Heute‘ bezeichnet die Wochen nach seinem Verschwinden.

Von den beiden zentralen Figuren, der Erzählerin und dem Mann erfährt der Leser zu keinem Zeitpunkt Namen oder exaktes Alter. Dennoch wird deutlich, dass sich die Erzählerin nicht mehr in der Blüte ihrer Weiblichkeit befindet und sie entsprechend überrascht wird von der Verbindung, die sie mit dem Mann eingeht, von dem sie selbst sagt, dass weder sein Körper besonders attraktiv noch seine Rede von besonderem Intellekt zeugt. Desungeachtet fühlt sie sich von ihm erstmals allumfänglich geliebt, weil geborgen. Es scheint, als würde sie nach vielen Jahren der Suche nun zu einer großen inneren Ruhe gelangen, ihren angesammelten Zynismus in Teilen verlieren, sich in einem nachgerade vollzufriedenen Zustand von der Welt abwenden und ausschließlich auf ihre Zweisamkeit richten, die ihr absolut genug und die nicht von spektakulärem Tun gekennzeichnet ist. Dieser Genügsamkeit wohnt indes keine Flucht inne, auch kein Klammern oder zwanghaftes Glück, doch noch jemanden ‚abgekriegt zu haben‘.
Während einer gemeinsamen Reise nach Asien, auf eine Insel Nähe Hongkong, macht sich der Mann allein auf, einige Besorgungen auf der Hauptinsel zu tätigen, so wie er es auch zuvor bereits getan hatte. Von dieser Fahrt kehrt er jedoch nicht zurück und auch alles Suchen und Bemühen der Erzählerin sein Verschwinden aufzuklären, bleiben erfolglos. Anfangs von der bangen Hoffnung getragen, er möge doch noch auftauchen und sie dann eben dort vorfinden, wo sie beide zuletzt gemeinsam unterwegs waren, bleibt sie in ihrem Feriendomizil. Mit dem Verstreichen der Zeit wird ihr zusehends deutlich, dass es eine solche Wiederkehr des Mannes, ihres so zufriedenen Lebens, nicht geben wird. Sie macht sich auf, ihr Elend und Schicksal zu akzeptieren, in dem sie sich, beinahe könnte es als eine Form moderner Selbstkasteiung bezeichnet werden, einen immer gleichen Tagesablauf zu eigen macht, in dessen Verlauf sie jedoch zunächst keine Optionen erwägt, keine Konsequenzen aus ihrer Situation zu ziehen fähig, aber auch nicht zu ziehen bereit ist. Sie sinkt tief hinein in einen Zustand großer seelischer Erschöpfung, Selbstmitleid und Depression.
Erst die Begegnung mit einem jungen Mädchen, das sie schließlich die Bekanntschaft mit ihrem verwitweten Großvater machen lässt, verändert zwar nicht ihr Leben, aber zumindest ihre Perspektive, lässt sie die tägliche Routine unterbrechen und erstmals wieder autarke, selbstverantwortete Entscheidungen treffen. Ob nun zum Guten oder zum Schlechten, muss an dieser Stelle offen bleiben. Es wird nicht explizit von der Autorin gesagt.

Sibylle Berg verlangt ihrer Leserschaft auch an anderen Stellen ab, sich eine eigene Meinung zu bilden. So bilden Erfahrungen, Stimmungen und Ansichten der Lesenden die Folie, auf der sich die Gedanken und das Tun der Ich-Erzählerin – stärker als dies ohnehin bei der Lektüre eines Romans der Fall ist – überhaupt erst zu einem emotionalen Verstehen und Begleiten der Protagonistin entwickeln können. Insbesondere in den Kapiteln des ‚Heute‘ bordet die Erzählerin über von Trostlosigkeit, Selbstmitleid, Gelähmtheit, dass man als Leser sich wünscht, Teil der Geschichte zu werden, sich hineinversetzt wünscht in das Buch – nur, um ihr zu begegnen und ihr ein paar klare Wahrheiten um die Ohren zu hauen oder sie sonstwie aus ihrer lethargischen Verfassung herauszureißen. Sibylle Berg gelingt es, Stimmungen zu erzeugen, die sich einprägen, denen sich beim Lesen nicht entzogen werden kann.

In verschiedenen Absätzen lässt sie ihre Erzählerin gelegentlich melancholisch, dann wieder zynisch oder mit vor Selbstironie strotzender Hellsicht auf deren Leben blicken. Hierbei kommentiert sie ebenso treffend wie unprätentiös die großen Fragen des Lebens einer Frau. Es geht um das Erwachsenwerden, Männer, die Liebe, Emanzipation, Selbstverwirklichung und (vergängliche) Schönheit. In diesen Momenten ist der Roman „Der Mann schläft“ viel mehr als ein Frauenbuch oder eine Liebesgeschichte, dann ist er Gesellschaftsroman, Gesellschaftskritik und lädt nicht nur ein, nein, er zwingt den Lesenden, gegenüber sich selbst Stellung zu beziehen zum formulierten Gedanken. Etwa, wenn es in Bezug auf die Liebe heißt: „Da musste immer Besinnungslosigkeit sein und Kontrollverlust, Auflösung und unbedingt Seelenverwandtschaft. Alles Zustände, die mir zuwider waren. Ich fand meine Seele nicht so überragend, dass ich mir noch einen mit den gleichen Unfähigkeiten gewünscht hätte. Liebe wurde in der öffentlichen Wahrnehmung mit etwas Pathologischem gleichgesetzt und hatte mit weggebissener Unterwäsche und Schweiß zu tun. Dass es sich im besseren Fall um etwas Familiäres, Freundschaftliches handelte, war eine unpopuläre Idee.“ (S. 66) Oder mit Blick auf Individualisierung, Freiheit und Gesellschaftsordnungen an anderer Stelle: „Alles muss definiert sein, geregelt, geordnet; geheiratet muss werden, auch gleichgeschlechtlich, auch Familienmitglieder und Tiere, so entfernt von Anarchie und Ungehorsam wie jetzt schienen die Menschen noch nie, gerade weil sie so frei sind.“ (S. 167).

Sibylle Berg hat ohne Zweifel einen großen Roman geschrieben. Einen anstrengenden, einen, der aufregt. Und der anregt. Er fordert, ohne zu überfordern – und ist doch auch gute Unterhaltung.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 20. März 2010
Huber spannt aus
In der deutschsprachigen Literaturszene hat sich Martin Suter mit seinen Büchern inzwischen einen Namen gemacht. In seinen Texten gelingt es ihm zumeist, klare Bilder und Situationsbeschreibungen zu erzeugen.
Als Kolumnist für verschiedene Zeitschriften bzw. Zeitungen hat er die dafür notwendige Beobachtungsgabe trefflich anwenden können. In Huber spannt aus - und andere Geschichten aus der Business Class sind einige dieser Kolumnen gesammelt. Auch hier formuliert Suter mit spitzer Feder und richtet den literarischen Scheinwerfer auf Einblicke in das Leben der Business Class. Oftmals aus der Perspektive des einzelnen Managers schildert er Probleme im Job, Sorgen mit der Familie, kurzum: Schwierigkeiten und Widrigkeiten aus dem alltäglichen Leben derjenigen, von denen viele nicht wissen, was sie eigentlich tun, außer Krawatten zu tragen.

Suter nimmt sich dieser Kaste an, ironisch, böse, trocken. Auf jeweils wenigen Seiten skizziert er Psychogramme und das Funktionieren eines Systems derart nüchtern, dass man gewillt ist, seine Texte als Insiderkenntnisse zu deklarieren.
So erzählt Suter vom Strategieseminar "Lego-Serious-Play-Seminar", in dem die Herren Dr. Reitlinger, Dr. Haselberger und Dr. Wittler neue Perspektiven für ihr Unternehmen entwickeln sollen; vom "hochspezialisierten Turnaround-Manager" Etter, der "normalerweise bedeutendere Aufgaben zu bewältigen hat, sich [aber] nicht zu schade ist, auch einmal in die Niederungen der täglichen Verrichtungen hinabzusteigen" und folglich mit modernster Managerausrüstung versehen (= Palm) selbstredend einen Supermarkteinkauf wie eine Übernahmeschlacht und unter Effizienzgesichtspunkten und BWL'erischer Herangehensweise zu organisieren bestrebt ist ...

Wer sich nun an Loriots "Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein" erinnert fühlen sollte, der weiß, was ihn erwartet. Indes, Suter ist weniger nachsichtig als Loriot - er zielt mitten hinein in das Selbstverständnis der kleinen und vermeintlich großen Manager, legt ihre Attitüden bloß und vertreibt gekonnt den Rauch der Nebelkerzen, den diese Wirtschaftssubjekte allzuoft erzeugen, indem er seine Leser über sie lachen macht.

... link (0 Kommentare)   ... comment