Mittwoch, 7. April 2010
Der Mann schläft
Ein Frauenroman. Ohne Frage. Ein Roman von einer Frau geschrieben. Ob sie aber tatsächlich auch für ein vornehmlich weibliches Lesepublikum schrieb, muss bezweifelt werden.

Sibylle Berg hat einen Roman geschrieben, der im Hanser Literaturverlag erschienen ist und den schlichten Titel Der Mann schläft trägt. Unprätentiös wie der Titel erscheint auch das gesamte Buch. Um es knapp zusammenfassen, bräuchte es nicht mehr als den Hinweis, dass eine Frau sich unerwartet und jenseits ihrer Blüte eine (neue) Liebe leben darf, sich geliebt fühlt, ihr der Geliebte auf unerklärliche Weise abhandenkommt, sie aus dem Gleichgewicht gerät und Rückschau auf ihr Leben hält. Es wäre eine Zusammenfassung, aber sie würde dem, was das Buch eigentlich ausmacht, in keiner Weise gerecht. Dieser Plot nämlich dient der Autorin lediglich als Aufhängung dessen, was sie an Gedanken zu zentralen Fragen des Lebens formuliert.

In „Der Mann schläft“ berichtet die Ich-Erzählerin von unterschiedlichen Lebensphasen. Diese lassen sich grob in diejenige vor der Begegnung mit dem Mann, die gemeinsame Zeit mit und die Zeit nach dem Mann unterteilen.
Wiewohl die Chronologie erkennbar bleibt, schreibt Sibylle Berg schlaglichtartig in knapp gehaltenen Kapiteln von jeweils unter zehn Seiten und lässt hierbei konsequent einem jeden Abschnitt ‚Damals‘ ein Kapitel ‚Heute‘ folgen. Unter dem ‚Damals‘ fasst sie dabei die Zeit bis zum Verlust des Mannes, das ‚Heute‘ bezeichnet die Wochen nach seinem Verschwinden.

Von den beiden zentralen Figuren, der Erzählerin und dem Mann erfährt der Leser zu keinem Zeitpunkt Namen oder exaktes Alter. Dennoch wird deutlich, dass sich die Erzählerin nicht mehr in der Blüte ihrer Weiblichkeit befindet und sie entsprechend überrascht wird von der Verbindung, die sie mit dem Mann eingeht, von dem sie selbst sagt, dass weder sein Körper besonders attraktiv noch seine Rede von besonderem Intellekt zeugt. Desungeachtet fühlt sie sich von ihm erstmals allumfänglich geliebt, weil geborgen. Es scheint, als würde sie nach vielen Jahren der Suche nun zu einer großen inneren Ruhe gelangen, ihren angesammelten Zynismus in Teilen verlieren, sich in einem nachgerade vollzufriedenen Zustand von der Welt abwenden und ausschließlich auf ihre Zweisamkeit richten, die ihr absolut genug und die nicht von spektakulärem Tun gekennzeichnet ist. Dieser Genügsamkeit wohnt indes keine Flucht inne, auch kein Klammern oder zwanghaftes Glück, doch noch jemanden ‚abgekriegt zu haben‘.
Während einer gemeinsamen Reise nach Asien, auf eine Insel Nähe Hongkong, macht sich der Mann allein auf, einige Besorgungen auf der Hauptinsel zu tätigen, so wie er es auch zuvor bereits getan hatte. Von dieser Fahrt kehrt er jedoch nicht zurück und auch alles Suchen und Bemühen der Erzählerin sein Verschwinden aufzuklären, bleiben erfolglos. Anfangs von der bangen Hoffnung getragen, er möge doch noch auftauchen und sie dann eben dort vorfinden, wo sie beide zuletzt gemeinsam unterwegs waren, bleibt sie in ihrem Feriendomizil. Mit dem Verstreichen der Zeit wird ihr zusehends deutlich, dass es eine solche Wiederkehr des Mannes, ihres so zufriedenen Lebens, nicht geben wird. Sie macht sich auf, ihr Elend und Schicksal zu akzeptieren, in dem sie sich, beinahe könnte es als eine Form moderner Selbstkasteiung bezeichnet werden, einen immer gleichen Tagesablauf zu eigen macht, in dessen Verlauf sie jedoch zunächst keine Optionen erwägt, keine Konsequenzen aus ihrer Situation zu ziehen fähig, aber auch nicht zu ziehen bereit ist. Sie sinkt tief hinein in einen Zustand großer seelischer Erschöpfung, Selbstmitleid und Depression.
Erst die Begegnung mit einem jungen Mädchen, das sie schließlich die Bekanntschaft mit ihrem verwitweten Großvater machen lässt, verändert zwar nicht ihr Leben, aber zumindest ihre Perspektive, lässt sie die tägliche Routine unterbrechen und erstmals wieder autarke, selbstverantwortete Entscheidungen treffen. Ob nun zum Guten oder zum Schlechten, muss an dieser Stelle offen bleiben. Es wird nicht explizit von der Autorin gesagt.

Sibylle Berg verlangt ihrer Leserschaft auch an anderen Stellen ab, sich eine eigene Meinung zu bilden. So bilden Erfahrungen, Stimmungen und Ansichten der Lesenden die Folie, auf der sich die Gedanken und das Tun der Ich-Erzählerin – stärker als dies ohnehin bei der Lektüre eines Romans der Fall ist – überhaupt erst zu einem emotionalen Verstehen und Begleiten der Protagonistin entwickeln können. Insbesondere in den Kapiteln des ‚Heute‘ bordet die Erzählerin über von Trostlosigkeit, Selbstmitleid, Gelähmtheit, dass man als Leser sich wünscht, Teil der Geschichte zu werden, sich hineinversetzt wünscht in das Buch – nur, um ihr zu begegnen und ihr ein paar klare Wahrheiten um die Ohren zu hauen oder sie sonstwie aus ihrer lethargischen Verfassung herauszureißen. Sibylle Berg gelingt es, Stimmungen zu erzeugen, die sich einprägen, denen sich beim Lesen nicht entzogen werden kann.

In verschiedenen Absätzen lässt sie ihre Erzählerin gelegentlich melancholisch, dann wieder zynisch oder mit vor Selbstironie strotzender Hellsicht auf deren Leben blicken. Hierbei kommentiert sie ebenso treffend wie unprätentiös die großen Fragen des Lebens einer Frau. Es geht um das Erwachsenwerden, Männer, die Liebe, Emanzipation, Selbstverwirklichung und (vergängliche) Schönheit. In diesen Momenten ist der Roman „Der Mann schläft“ viel mehr als ein Frauenbuch oder eine Liebesgeschichte, dann ist er Gesellschaftsroman, Gesellschaftskritik und lädt nicht nur ein, nein, er zwingt den Lesenden, gegenüber sich selbst Stellung zu beziehen zum formulierten Gedanken. Etwa, wenn es in Bezug auf die Liebe heißt: „Da musste immer Besinnungslosigkeit sein und Kontrollverlust, Auflösung und unbedingt Seelenverwandtschaft. Alles Zustände, die mir zuwider waren. Ich fand meine Seele nicht so überragend, dass ich mir noch einen mit den gleichen Unfähigkeiten gewünscht hätte. Liebe wurde in der öffentlichen Wahrnehmung mit etwas Pathologischem gleichgesetzt und hatte mit weggebissener Unterwäsche und Schweiß zu tun. Dass es sich im besseren Fall um etwas Familiäres, Freundschaftliches handelte, war eine unpopuläre Idee.“ (S. 66) Oder mit Blick auf Individualisierung, Freiheit und Gesellschaftsordnungen an anderer Stelle: „Alles muss definiert sein, geregelt, geordnet; geheiratet muss werden, auch gleichgeschlechtlich, auch Familienmitglieder und Tiere, so entfernt von Anarchie und Ungehorsam wie jetzt schienen die Menschen noch nie, gerade weil sie so frei sind.“ (S. 167).

Sibylle Berg hat ohne Zweifel einen großen Roman geschrieben. Einen anstrengenden, einen, der aufregt. Und der anregt. Er fordert, ohne zu überfordern – und ist doch auch gute Unterhaltung.

... comment