Sonntag, 7. März 2010
Nineteen Eighty-Four
Noch immer wird in der Schule George Orwells Roman 1984 gelesen. OSAKR hat es vor weit über zehn Jahren auch durchgekaut. Natürlich war es irgendwie gruselig. Insgesamt aber eben auch nur eine der Pflichtlektüren im Englischkurs.
Eher zufällig, aus einer Laune heraus zog er das 'Schulbuch' aus dem Regal und fing zu lesen an. Seite um Seite wurde er weiter hineingezogen in dieses Werk, das sich ihm diesmal ganz anders öffnete. Fesselnd, aber nicht im Sinne einer spannungsgeladenen Geschichte, sondern weil sich hier gekonnt verschiedene Erzählebenen, Fragen und Themen übereinanderlegen. Die Geschichte des totalitären Überwachungsstaates, die Rolle des (kritischen) Individuums in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, das Verhältnis von Eliten und Massen, Krieg und Frieden, Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass. Das Bild, welches Orwell nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und während des Heraufziehens des Kalten Krieges zeichnet, ist zweifellos ein düsteres. In vielem nahezu von hellsichtiger Klarheit, höchstens um ein paar Jahre verschoben, skizziert er eine damals zukünftige, in Teilen heute überwundene, möglicherweise aber auch reale Welt, in der die alles überwölbende Frage nach „Macht“ und ihrer Ausformung im Sinne von Herrschaft radikal gestellt wird. Zuspitzend und polemisierend warnt er vor jeder herrschaftlichen Totalität – der starke Mann, der Große Bruder, führt nicht zu langfristigem Wohlstand, Glück und Zufriedenheit, sondern zu Kontrolle von Denken und Sein, Unterwerfung, Willkür, Furcht, Gleichgültigkeit. Orwells Buch ist ein Aufruf an alle Demokraten, sich ihrer Verantwortung und Pflicht der Gesellschaft gegenüber bewusst zu sein, diese zu fördern und zu verteidigen, nicht blind zu gehorchen, aber stattdessen kritisch und hinsehend die eigene Gesellschaft zu hinterfragen, ihre Entwicklung zu begleiten. Mag auch das Ende, die psychische Vernichtung des Protagonisten und die Auslöschung seiner Liebe, bitter sein, so sieht Orwell hierin doch nicht das zwangläufige Ende der Menschheit besiegelt, sondern umschreibt ein Szenario, das eintreten mag, werfen wir uns nicht mit aller Kraft in die Arme derer, die unser Denken zu manipulieren, Gleichgültigkeit der Gesellschaft hervorzurufen und alleinige Wahrheiten zu verankern versuchen. Sei es, sechzig Jahre nach Erstauflage uns allen Auftrag, sowohl gegenüber vermeintlicher „sicherheitsbedingter Notwendigkeiten“ in der staatlichen Exekutive und Legislative als auch gegenüber übergroßen und kaum mehr zu kontrollierenden Meinungs- und Datensammlern und –machern äußerst wachsam zu sein und im Zweifelsfall laut ‚NEIN‘ zu sagen.

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Sonntag, 21. Februar 2010
Am Wasser
Ein Tag, an dem das Leben sich freundlich zeigt, durch die kalte Winterluft eine helle Sonne ihre Strahlen schickt. Im Sessel sitzend, behagliche Stimmung, die aber nichts von herbstlich-winterlicher Introvertiertheit hat, sondern eher vom Drang nach Aufbruch gekennzeichnet ist: OSKAR nahm ein Buch zur Hand. Ein Bilderbuch mit Bildern des von ihm ohnehin sehr geschätzten Quint Buchholz: Am Wasser. Ein Bilderbuch mit Texten von Johanna und Martin Walser, erschienen 2000 bei Sanssouci im Verlag Nagel & Kimche.

Sämtliche Bilder scheinen Momentaufnahmen im Leben von Menschen. Oft sind es Situationen, welche die Weite des Meeres zum Thema haben. Quint Buchholz fragt mit seinen Bildern nach dem Wesen von Wasser, führt sinnbildlich vor Augen, welche - ganz unterschiedlichen - Gefühle wir mit dem Wasser verbinden. Seine Bilder zeugen dabei immer von einer großartigen, friedvollen Ruhe. Manchmal auch einer Ruhe, der viel Bewegung folgen wird.
Johanna und Martin Walser fanden zu vielen dieser Bilder knappe Kommentare, Bildunterschriften, Assoziationen. Sie fügen dem Gemalten etwas Geschriebenes hinzu - erklären nicht, sondern ergänzen. Es entsteht ein neues Bild - bestehend aus Bild und Text, zusammengefügt zu einer neuen, anderen, weiterreichenden Aussage oder Frage.

Jedes dieser Einzelkunstwerke lädt zum gedanklichen Verweilen ein, regt an, sich selbst in Wort und Bild zu suchen. Ein besonderes Buch, dessen 'Wirkung' wohl überdurchschnittlich von der Ausgangsstimmung des Lesenden/Betrachters abhängen wird.

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Montag, 15. Februar 2010
Wie durch ein Nadelöhr
In den vergangenen zehn Jahren wurden sie zum Glück stärker als zuvor ins Bewusstsein gerückt: Zeugen, die der Fratze des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts ins Gesicht hatten sehen müssen, Leid, Tod, Hunger und Schrecken erfahren hatten. Jede und jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte, die zu erzählen manche von ihnen nicht müde werden. In unzähligen Gesprächen im Familien- oder Bekanntenkreis, bei Besuchen in Schulen oder in Jugendgruppen erzählten sie ihre Geschichte, die so sehr Teil ihrer eigenen Biografie ist. Abseits der Kriegsschauplätze oder der großen Daten, die es ins kollektive Gedächtnis schaffen und in die Kalender der, mit Verlaub, Gedenkindustrie, sind es gerade diese individuellen Erfahrungen, die denjenigen, die eben nicht dabei waren, das Leben jener Zeit näherbringen und veranschaulichen helfen, wie "es denn nun damals gewesen war".

Diese Menschen sterben allmählich, aber es ist ihr Verdienst, nicht (nur) mit moralischen Zeigefingern erzählt, sondern vielmals auch in Essays, Artikeln oder Büchern ihre Biografien und Erlebnisse festgehalten zu haben. Eines dieser Bücher wurde von Carlotta Marchand geschrieben: Wie durch ein Nadelöhr. Erinnerungen einer jüdischen Frau.
Carlotta Marchand, 1918 in Belgien als Tochter ungleicher Elternteile geboren und in Den Haag aufgewachsen, ging als jüdisches Kind zur deutschen Schule und erlebte alsbald erste Repressalien, später dann die Deportation ihrer Familie. Sie selbst überlebte im Versteck. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2007 engagierte sie sich gegen das Verdrängen und Vergessen; insbesondere besuchte sie Schulen im deutschsprachigen Raum.

Carlotta Marchand hält in ihrem Buch, Originaltitel: Door het Oog van de Naald einerseits Rückschau auf ihr Leben, andererseits kommentiert sie die eigene Vergangenheit und Gegenwart zuweilen heiter, meist aber lakonisch, trocken, nicht selten mit bissiger Ironie. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sollte es 35 Jahre dauern, ehe sie sich an die Niederschrift ihres Manuskripts wagt; nicht zuletzt ausgelöst durch Fragen nach Identität, Lehren aus der Vergangenheit, ihrem Verhältnis zu allem, was 'deutsch' war/ist...

In 34 Kapiteln, jeweils zwischen zwei und fünf Seiten, wirft sie Schlaglichter auf ihr Leben. Neben einem knappen Abriss ihrer Familie und Kindheit richtet die Autorin ihr Hauptaugenmerk auf ihre Erlebnisse unter der braunen Besatzungsmacht. Die Deportation ihrer Eltern, ihr Untertauchen, die innige Beziehung zu ihrem Ehemann. Carla Marchand schreibt im niederländischen Original schlicht, nüchtern, treffend, dabei immer ihre subjektive Sicht vermittelnd, nicht aufdrängend. Das Ende des Buches, und das ist das große Verdienst, welches dieses Buch so besonders macht, liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft: mit derselben scharfen Feder, mit der sie über ihre Kriegs- und Verfolgungsgeschichte schreibt, zieht sie die Linie bis in die Gegenwart, das heißt bis ins Jahr 1981 (Erstausgabe). Sie berichtet von ihren Erfahrungen als Zeitzeugin in den Niederlanden und Deutschland, beschönigt nichts, verhehlt auch nicht, dass sie den Deutschen vielfach - und in gewisser Weise leider zurecht - nach wie vor misstrauisch gegenüber tritt. Dennoch, oder gerade deswegen, sieht sie sich in der Pflicht, auch in Zukunft weiter zu berichten, zu erzählen, zu offenbaren, gegen das Vergessen anzugehen. - Nach ihrem Tod bleibt ihr Buch als starkes Stück, das weit mehr ist als Mahnung. Es ist ein Aufruf zu Menschlichkeit und gegenseitigem Respekt!

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Sonntag, 7. Februar 2010
Von der Liebe und ihren Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929
Peter Hoeg ist nicht unbedingt ein Begriff. Der Autor des umso bekannteren und verfilmten Romans Fräulein Smillas Gespür für Schnee hat aber noch andere Bücher geschrieben. Eines davon erschien im Original 1990, ins Deutsche übertragen wurde es 1996: Von der Liebe und ihren Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929.
Erzählt werden sechs Geschichten, die sich alle um ein Datum ein Motiv ranken. Sie alle stehen in keinem weiteren Zusammenhang, sind auch für sich zu verstehen und spielen an den unterschiedlichsten Orten. Ihnen gemein ist das Motiv der Liebe, welches aber gänzlich unterschiedlich in Szene gesetzt wird.
Die Erzähungen sind auf ihre Weise jeweils Gesellschaftsskizze und reißen zuweilen den Schleier des Perfekten von der Fassade des Brüchigen. Zugleich schildert Hoeg auf bedächtige, aber nie lahme Weise, welch zartes Gefühl die Liebe ist - und wie sehr diese zu großen Taten verführt, verleitet, befähigt.

Ein lesenswertes Buch, das den Leser bei der Hand nimmt, ihn eintauchen lässt in eine andere Zeit, in der Konventionen wichtig waren, die heute gänzlich überholt scheinen. Andererseits offenbart sich, dass das Wesen der Menschen damals wie eben auch heute von ähnlichen Zügen geprägt ist, ähnliche Sehnsüchte und das Streben nach Glück sich kaum unterscheiden.

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Montag, 7. Dezember 2009
Die Tochter des französischen Gesandten
Dieser Tage hat OSKAR auf dem Flohmarkt ein paar gut erhaltene Bücher gekauft. Eines davon wurde von Thomas Einfeldt geschrieben. Er ist Hamburger, Zahnarzt, Hobbyschriftsteller. Wobei sich niemand in die Irre führen lassen sollte. Wo dem Wort 'Hobby' oft etwas amateur-, um nicht zu sagen, stümperhaftes innewohnt, schreibt Einfeldt packend, mitreißend, gut recherchiert und mit Lust am Detail.

Die Tochter des französischen Gesandten. Ein Roman aus der Zeit Napoleons, erschien 2004 bei Pieper und spielt im frühen 19. Jahrhundert in Hamburg, zur Zeit der napoleonischen Besatzung.

Es sind zwei – naturgemäß sehr unterschiedliche – Sichtweisen auf das besetzte Hamburg, die hier erzählt werden. Auf der einen Seite diejenige des Clemens Maiboom. Spross einer eingesessenen Kaufmannsfamilie, erfährt er die Widrigkeiten und Folgen der Besatzung für die Stadt Hamburg und ihrer stolzen Einwohner sowie die Folgen der Kontinentalsperre und der restriktiven Handelsvorschriften der Franzosen und die damit verbundenen Hürden für seine Familie und die anderen Händler, die ihren Geschäften nurmehr unter großen Schwierigkeiten nachzugehen vermögen. Clemens, anfangs noch sehr im Schatten seines Vaters und seines Bruders stehend, gelingt es durch List und Klugheit, mit Wagemut und Glück dennoch, Waren zu schmuggeln und zu verhandeln. Auf diese Weise vermag er substantiell zum Fortbestehen des Handelshauses beizutragen und aus dem Schatten seines Vaters zu treten.
Neben seinen Geschäften wendet sich Clemens als aufrechter Bürger gegen die Besatzung dieser ehedem freien und stolzen Stadt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis er sich in inneren Zirkeln von patriotisch gesinnten Bürgern wiederfindet, um über Maßnahmen gegen die Besatzung zu beraten und eventuell auch aufzubegehren.

Zugleich gelangt er durch glückliche Umstände und Zufälle in die gehobeneren Kreise der Stadt, lernt hier auch Vertreter der Diplomatie und Repräsentanten der französischen Besatzer kennen. Während einer Gesellschaft trifft er so auch auf die Tochter des Gesandten Gauthier, die eigenwillig und bestrebt, ein eigenständiges Leben zu führen, der Pariser Behütetheit zu entrinnen versuchte, indem sie ihrem Vater nach Hamburg gefolgt war.
Clothilde, ihrerseits aufrechte Französin und von den edlen Motiven eines Napoleon durchdrungen, begegnet dem jungen Maiboom zunächst skeptisch. Schließlich aber finden die beiden jungen Menschen zueinander und lernen sich lieben. Dass diese Liebe keine einfache ist, ergibt sich gleich aus mehreren Umständen. Zuvörderst wurden für Sprösslinge aus gutem Hause die Ehen arrangiert - in Hamburg wie auch, aller Aufklärung zum Trotz, in Paris.

Zugleich wird hier die Geschichte einer Verbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Systeme erzählt, in dem beide Liebenden zugleich aufrichtig das System vertreten, dem sie entstammen.
Mit der Zeit entdecken beide auch das Positive am Standpunkt und System des anderen. Es stürzt beide in existentielle Fragen nach der eigenen Verortung beziehungsweise der Rechtmäßigkeit der Besatzung: Clemens sieht Gutes im administrativen Geschehen der Franzosen, Clothilde erkennt zunehmend die Verlogenheit hinter den hehren Idealen, die nur noch mäßig die Ausbeutung der Stadt Hamburg und ihrer Bürger zu verschleiern vermögen.

Der Autor bettet seine fiktive Handlung gekonnt in einen historischen Zeitrahmen (Herbst 1807 bis Mai 1814), die er mit detailliertem und sauber recherchiertem Wissen um das Funktionieren der Gesellschaft um das beginnende 19. Jahrhundert anreichert. Er zeichnet ein lebendiges Bild der Zeit, webt dabei historisch fundiertes Wissen um Stände, Wirtschaftsgeschehen, Architektur, Gesellschaft und Politik, Selbstverständnis verschiedener Bevölkerungsgruppen zu einem farbenfrohes Mosaik. Der Leser wird Teil dessen und fühlt sich als stiller Beobachter, ja, Teilhabender des Geschehens - etwa, wenn der Zahnarzt (mithin ein Standeskollege des Autors) seinen Patienten mit - damals - moderner Technik behandelt.

Lediglich an wenigen Stellen langweilt diese Detailfülle; so kann der dem Segeln nicht Kundige schnell genervt sein, wenn der Autor mit Fachtermini der Segelei und Schifffahrt über zwei Seiten die Dramatik eines Gewitters für die Besatzung eines Seglers schildert. Abgesehen von solch kleinen, aber leicht zu überblätternden Passagen, bietet dieser Roman größtes Lesevergnügen und sei an dieser Stelle wärmstens empfohlen. Und das nicht nur, weil am Ende sich Hamburg wieder als freie Stadt dem Handel zuwenden kann und schließlich auch die beiden Liebenden einander glücklich in die Arme schließen dürfen!

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Donnerstag, 28. Mai 2009
Lila, Lila
Lange Zeit kannte OSKAR Martin Suter nicht. Inzwischen hat er mit Lila, Lila zum vierten Mal ein gut geschriebenes Buch von ihm gelesen.

Bereits während der Lektüre der ersten Seiten wird deutlich, dass dieser Roman kein Happy End haben würde. Zu sehr lastet etwas Unheilschwangers über allem – und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch einmal die zentralen Protagonisten klar erkennbar wären: „Und dieser Peter Landwei – das war ich.“

David Kern, 23jähriger Kellner eines Clubs, ist mit seinem Dasein weder besonders zufrieden oder unzufrieden. Seine Lethargie wird durchbrochen, als zwei zunächst Ereignisse sich verbinden: Da ist zunächst der Kauf eines Nachtschränkchens beim Trödler. In dessen Schublade findet David das Manuskript eines Romans, der die Geschichte einer Liebe in den 1950er Jahren erzählt, die aber nicht sein durfte, die schließlich zerbricht und an deren Ende der verzweifelte Erzähler nur noch den Ausweg eines Selbstmordes für sich sieht und sich der Beginn („Das ist die Geschichte von Peter und Sophie. Lieber Gott, lass sie nicht traurig enden.“) nicht bewahrheiten sollte.
Außerdem trifft er während seines Jobs auf Marie, eine Studentin in seinem Alter, und verliebt sich in sie. Sie indes zeigt sich anfangs vor allem einem der Stammgäste, gleichermaßen Platzhirsch und Aufschneider, des Clubs, in dem David arbeitet, sehr zugetan. Um sie dennoch auf sich aufmerksam zu machen, überlässt er ihr das fremde Manuskript, das er allerdings indirekt für sein eigenes Werk ausgibt. Sie ist davon sehr berührt, schickt es heimlich an einen Verlag, verliebt sich in David; die beiden werden ein Paar. Um seine Liebe nicht zu gefährden, hält David an seiner Geschichte fest, wenngleich mit großem Unbehagen. Dieses wächst noch, als es tatsächlich zur Veröffentlichung „seines“ Buches und zu dessen Triumphzug an die Spitzen der Bestsellerlisten kommt.

Spätestens während dieser Entwicklung wird klar, dass es zum Knall kommen muss, und auch David fürchtet das Auffliegen seines Lügengebäudes. Dieses vor allem, weil er erkennt, dass bei einer Enttarnung die Basis seiner Beziehung mit Marie möglicherweise endgültig zerrüttet wäre, wenn er es ihr nicht selbst sagen würde. – In der Tat meldet sich alsbald ein - allerdings von Suter etwas zu klischeehaft dargestellter - alkoholkranker und vermeintlich am Leben gescheiterter „Jackie“, der sich als rechtmäßiger Inhaber der Geschichte ausgibt, David aber nicht auffliegen lässt, sondern sich geschickt am Erfolg des Jungautors zu bereichern und diesen zu manipulieren bzw. zu beherrschen weiß. Dieser gerät immer weiter in das Labyrinth aus Lügen, und erst zu spät erkennt er, dass er just hiermit sich selbst und damit seine große Liebe verrät. Zwar vermag er sich den Fängen von „Jackie“ zu entledigen, seine Beziehung verliert er aber dennoch unwiederbringlich – und erkennt sich plötzlich als den Protagonisten „seiner“ Geschichte: ein hoffnungslos verliebter Mann.

Suter beschließt seinen Roman, indem er David die ersten Worte eines wirklich eigenen Werkes verfassen lässt: „Das ist die Geschichte von David und Marie. Lieber Gott, lass sie nicht traurig enden.“ Obschon dieses Ende wenig überrascht, verstört es, ist es unbequem und zwingt zu der Frage, ob sich das Ende einer Liebesgeschichte wiederholen kann.

Der Autor von „Lila, Lila“ erzählt die Geschichte aus der Perspektive von David, Marie und Jackie. Er versteht es glänzend, die jeweiligen Lebensstile und Denkwelten zu entwickeln und glaubhaft zu erzählen. Nicht reißerisch, besonders temporeich oder vermittels billiger Effektheischerei vermag er den Leser zu fesseln, sondern aufgrund seiner Erzählweise, die jeder seiner Figuren wie auch der Geschichte Raum zur Entfaltung und Individualität lässt. Die Stärke des Romans liegt zudem in seiner ‚Nachfühlbarkeit‘. Ist es nicht allzu verständlich, dass dieser junge Kerl mit einem kleinen Trick und nicht in böser Absicht das Herz dieser Frau zu erobern sucht und dann von den Ereignissen überrollt wird, den Absprung Richtung Wahrheit nicht mehr rechtzeitig schafft und immer weiter in den Sumpf aus Lügen hineingezogen wird?! Spätestens, wenn das Ende der Liebesgeschichte sich immer klarer abzuzeichnen beginnt, möchte man diesen jungen Mann schütteln, ihn anschreien, dass er gefälligst die Reißleine ziehen möge… - Suter hat sich einmal mehr als Meister des einfühlsamen Erzählens gezeigt und ein lesenswertes, weil großartiges Buch geschrieben!

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Freitag, 10. April 2009

In the still of the night





In the still of the night


In the still of the night
The full moon
How many times have you witnessed
Quiet souls standing atop balconies
Smoking fags
Thinking of lovers
Once loved, many times lost

As the spring day bids farewell
And night time befalls
Parked cars along dark streets crack
Under cooler temperatures
The distant rush of trains
Along cold rails
Once built, many times past

The occasional man on the street
Beckons to his dog
As if it were his only love
Speaks to it
As if it were his only friend
Does not notice that he isn’t
Alone

The moon she watches
How many times she has seen
With that clear white light
She sheds upon these lonely streets
Upon these quiet peoples
Standing still quite unnoticed
Once good, many times frail

In the still of the night
Whence many have gone to sleep
In their slumber quite appeased
The troubled hearts stay awake
Atop balconies with smoking fags
And weary eyes
Once lived, many times died



j.h.
April 2009


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Samstag, 21. März 2009
Mieses Karma
Etwas skeptisch war OSKAR ja schon, als er kürzlich von einem Bekannten dieses Buch im wahrsten Sinne des Wortes 'vor den Latz geknallt' bekam: "Lies das. Ist Trash. Aber guter Trash." Hm. Erst etwas widerwillig, weil der Klappentext von Mieses Karma auf eine völlig abgedrehte Geschichte deutete, die andernorts schnell ins Billige abgleitet und langweilt. Zudem kamen die auf dem Umschlag abgedruckten Leseempfehlungen vom literaturmäßig eher nicht für OSKAR relevanten Magazin "Brigitte" sowie dem bundesweiten Tageblatt, das eher für seine großen Fotos denn für Wahrheit und Hintergründe bekannt ist...

In der Tat, die Geschichte ist abgedreht. Eine junge, gutaussehende Karrierefrau beim deutschen Fernsehen, die so ziemlich das Klischee einer karriere- und selbstverliebten Egomanze erfüllt, stirbt nach außerehelichem Showbiz-Sex auf dem vorläufigen Höhepunkt ihrer beruflichen Laufbahn. Ein Waschbecken eines beim Eintritt in die Erdatmosphäre nicht restlos verglühten Raumstationwaschbeckens bereitete ihr ein jähes Ende und befördert sie ins Jenseits.

Nach dieser Vorgeschichte, die zudem noch deutlich macht, dass ihre Ehe nicht zum besten bestellt ist, beginnt sehr temporeich die Erzählung der Läuterung und Besserung. Und auch, wenn man direkt ahnt, wie diese Geschichte am Ende ausgehen wird, so versteht es David Safier, auf humorvolle und verrückte Weise mit Tempo und raffinierten Einfällen den Weg vom miesen Karma hin zur guten und nahezu edlen Seele zu erzählen.
Zunächst wird die TV-Frau als Ameise wiedergeboren; gegen ihren Willen und - ganz emanzipiert, willensstark und kompromisslos egozentrisch - daher durchaus auch mit Buddah über diese Art der Erniedrigung diskutierend.
Erstmals aber ist nicht mehr sie es, die alle und alle Situationen kontrolliert, sondern sich einfügen muss: im Ameisenstaat, der in unmittelbarer Nähe zum Domizil von Witwer und Halbwaise gelegen ist. Die noch stets energische und um ihre Ziele kämpfende Ameise versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die ehemals beste Freundin sich als Stiefmutter und Geliebte einnistet. Nur sind die Möglichkeiten einer Ameise eben begrenzt...
Nichtsdestotrotz wird es ihr - hierbei unterstützt von einem Verstorbenen aus längst vergangenen Tagen und über den Umweg diverser anderer äußerlicher Hüllen - letztlich gelingen. Sie versteht nämlich früh, dass nur, wer gutes Karma sammelt und infolgedessen auf der Reinkarnationsleiter immer weiter aufsteigt, sich aus dem Ameisendasein befreien und damit Schritt für Schritt bzw. Reinkarnation um Reinkarnation mehr selbstbestimmte Handlungsfreiheiten gewinnen kann.

In der Tat, es ist Trashliteratur. Die aber ist gut gemacht, weil sie nicht billig wird, eine gute Idee nicht unnötig lange auswalzt, sondern strikt auf ihr Ziel, das Buchende, hinführt. Wer dennoch in allem Gelesenen oder Gesehenem etwas sucht, der wird ohne Zweifel auch hier fündig bzw. zum Nachdenken angeregt: a) Mieses Karma vermeiden?; b) Ameisennester unter der Terrasse vernichten?; c) auch dicke Frauen haben Spaß; d) es hat seinen Reiz zu wissen, dass man sich im Reinkarnationsprozess befindet.

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Dienstag, 27. Januar 2009
Adam und Evelyn
In Anlehnung an die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies schreibt Ingo Schulze über den Sommer 1989. Adam, erfolgreicher Damenschneider, und seine junge Freundin Evelyn, welcher ein Studium verweigert wurde, leben in einer ostdeutschen Stadt. Beide scheinen sich mit dem DDR-Regime arrangiert zu haben.
Der eigentliche Plot der Geschichte spielt jedoch jenseits der DDR-Grenzen, in Ungarn am Plattensee. Nachdem Evelyn, von dem sie lediglich wusste, dass er einige seiner Damen auch fotografiert, gewissermaßen bei anderem Tun in flagranti überrascht, reist sie mit ihrer besten Freundin und dessen West-Cousin Richtung Ungarn. Da aber Adam seine Freundin liebt, fährt er ihr in seinem alten Trabi hinterher. Unterwegs liest er eine andere junge Frau auf, die sich alsbald als Republikflüchtling entpuppt. Zwischen ihnen entsteht Zuneigung, ohne dass es aber zu mehr käme.
Beide reisen in den Ort, an dem Evelyn und ihre Reisebegleiter sich bei der Familie einer Freundin Evelyns einquartiert haben. Während sein 'Flüchtige' auf dem Campingplatz wohnt, wird Adam sich im Garten der Familie in einem Zelt einrichten.
In dieser Szenerie entspinnen sich Gespräche und Begegnungen, die von Zwischenmenschlichem, Republikflucht, Zukunftswünschen, Idealisierungen und Realitäten handeln. Über allem hängt die Note der Veränderung, niemand weiß, was genau umgeht, doch alle Protagonisten spüren wohl, dass sie Zeuge von Veränderungen im Großen wie im Kleinen werden.
Nachdem sich schließlich Adam und Evelyn nach deren Intimitäten - ob aus Protest oder Berechnung - mit dem West-Cousin ihrer Freundin wieder zusammenraufen, überschreiten sie gemeinsam die Grenze nach Österreich und gelangen so schließlich nach Westdeutschland. Während seine Freundin sich im Land ihrer Träume befindet, voller Tatendrang und mit Begeisterung ihr Leben neu beginnt, endlich das ihr so lange Studium aufnimmt, sieht Adam vor allem, was er zurücklassen musste - und dies ist im Wesentlichen sein von Erfolg und Anerkennung geprägtes Leben. Doch auch er wird nach kurzer Rückkehr in sein Haus zum Neuanfang in München gezwungen.

Ingo Schulze ist mit seinem Wenderoman ein Buch gelungen, das keine leichte Kost ist, sondern sich mit Sehnsüchten einerseits und den Hürden eines Neuanfangs andererseits sehr feinsinnig unterschiedlichen Charakteren auseinandersetzt. Es ist im Spannungsfeld von Verlockung und Widerstehen, Vernunft und Sehnsucht, Erotik und Alltag angesiedelt. Sein Kontext eröffnet einen facettenreichen Blick auf das - allzu oft nur als glücklich geschilderte - Ende der DDR, der den Blick auf den Menschen ermöglicht. Seine Sprache orientiert sich dabei an den Umständen, wird Protagonisten und Situationen gerecht.

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Donnerstag, 1. Januar 2009
Das Gefahrendreieck
Welch doppeldeutiger Titel, den das Buchvon A.F.Th. van der Heijden im Deutschen trägt: Das Gefahrendreieck. Der Erzähler berichtet vom Leben des jungen Albert in den 1950er und 1960er Jahren, das sich anfangs zu Kinderzeiten in einem Dorf, später dann zu Studienzeiten in Nimwegen in den Niederlanden abspielt.

Während seiner Kinder- und Jugendzeit ist das Gebiet, auf dem sich Albert spielerisch und die Welt entdecken kann, begrenzt von einer Straße, einem Kanal und einer Eisenbahnlinie. Innerhalb dieses Dreiecks, dessen Grenzen jeweils eine Gefahr für ein spielendes Kind darstellen, die zudem noch von seiner besorgten Mutter ins Unermessliche gesteigert und dem Jungen somit noch attraktiver erscheinen, bewegt sich der junge Albert. Sein Leben als Kind ist aber vor allem geprägt von einem unberechenbaren und dem Alkohol verfallenen Vater, der seine ganze Familie mit seinem herrschsüchtigen und gewalttätigem Verhalten dominiert, tyrannisiert. Einfühlsam schildert der Autor, wie Albert und seine Mutter ihn im Laufe der Jahre zu ertragen lernen und ihn schließlich ruhig stellen können. Dennoch sind es diese Erfahrungen, die Albert auf seinem weiteren Lebensweg verfolgen wie Schreckgespenster in stets wandelnden Erscheinungsformen.
Während er zwar mit seinem Kinder- und Jugendfreund erste sexuelle Erfahrungen sammelt, in der engen und von übersteigerten Moralvorstellungen seiner Umgebung jedoch keinerlei Aufklärung erfährt, verbinden sich in Albert Schuldgefühle und Identitätssuche zu einer unheilvollen Gemengelage. Würde sein Vater weniger aggressiv, das Leben zu Hause harmonischer sein, wenn er nicht ab und an seinen reifenden Körper erkunden und Lust empfinden würde?
Ob dies der Grund für seine späteren Versagensängste bei Frauen - besser gesagt, in der Vereinigung mit deren Gefahrendreiecken - ist, lässt van der Heijden letztlich offen. Er gewährt dem Leser aber Einblick in Alberts Vortasten in die Welt der Studierenden und des Erwachsenwerdens. Ohne voyeuristisch zu sein, schafft er es, in diesem zweiten Teil des Buches, die Nöte und Ängste, das unbedingte Wollen nach Mannwerdung und Triebbefriedigung des jungen Mannes Albert zu beschreiben, den Leser daran teilhaben zu lassen. Er schildert darüber hinaus das Leben des jungen Studenten, seine Fragen an das Leben. Heijden schafft dabei zugleich ein Panorama jener Zeit, wobei wohl hie und da eigene Erfahrungen Eingang in diesen Roman gefunden haben.

Es ist keine leichte, beschwingte Lektüre. Bei vielen Begebenheiten oder Situationen wünscht man sich doch ein anderes als das zu erwartende Ende. Eine befreiende Wendung. Schonungslos, so lässt sich das Buch in einem Wort zusammenfassen. Aber genau darin liegt seine Stärke, in der Wahrhaftigkeit des geschilderten Lebens, auch wenn es 'nur' eine fiktive Geschichte sein mag.

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