Mittwoch, 11. Juli 2012
Friedo Lampe: Das Gesamtwerk
In einem anderen Buch fanden sich von dessen Ich-Erzähler bewundernd vermerkt die Zeilen:

"Heute hat mich die Erinnerung an einen deutschen Schriftsteller überfallen: Er hieß Frido Lampe. [...] Frido Lampe. Am Rande der Nacht. Dieser Name und dieser Titel ließen mich an erleuchtete Fenster denken, von denen man den Blick nicht losreißen kann. [...] Frido Lampe war 1899 in Bremen geboren, im selben Jahr Ernest Bruder. [...] Der Politik stand er gleichgültig gegenüber. Was ihn interessierte, war, die Abenddämmerung zu beschreiben, die über dem Bremer Hafen herabsinkt, das weiß-lila Licht der Bogenlampen, die Matrosen, die Catcher, die Orchester, das Klingeln der Trambahnen, die Eisenbahnbrücke, die Dampfsirene und all die Leute, die in der Nacht einander suchen...".*

Im Antiquariat fand sich nun Frido Lampe - Das Gesamtwerk mit kurzen Geschichten, die er zu Lebzeiten veröffentlichen konnte als auch dem ein oder anderen aus seinem Nachlass. Es ist ein beachtliches Werk verschiedener Bücher, dessen Autor in ähnlicher Weise wie Irmgard Keun mit ihrem Das kunstseidene Mädchen eine Bestandsaufnahme liefert, das Leben beschreibt, seine Stadt in Worte fasst. Auf mitunter anrührende Weise dokumentiert es nicht, sondern nimmt seine Leser selbstverständlich einladend mit hinein in eine vergangene Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg; gerade so, als lächele ein anderer Gast im Biergarten den Neuankömmling an, dabei auf den freien Platz neben sich klopfend und ihn einladend sich hinzuzusetzen. Kein großes Gewese, sondern Situationen und Augenblicke beschreibend, kurze - manchmal nur Stunden währende - Einblicke in Lebensabschnitte. Ob es sich hierbei nun um Fiktion handelt oder um nonfiktionales Erzählen, die Figuren erdacht oder an bestehende Personen angelehnt sind - es bleibt egal. Das Leben in seinen unterschiedlichen Ausprägungen für Bürgertum, Arbeiter, Frauen, Kinder oder Künstler, so wird rasch deutlich, ist hier eingefangen und "verwortet" worden. Die Personen treten dahinter zurück.

Ein wunderbares Stück Literatur eines leider fast völlig in Vergessenheit geratenen Autors.

(* Auszüge aus Patrick Modiano, Dora Bruder, München 2001, S. 104f.)

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Freitag, 23. März 2012
Das Glück in glücksfernen Zeiten
Wilhelm Genazino hat bei dtv im Jahr 2011 einen Roman veröffentlicht mit dem Titel Das Glück in glücksfernen Zeiten. Ein Buch, in dem der Ich-Erzähler - Gerhard Warlich - aus seinem Leben als promovierter Philosoph, der in Ermangelung akademischer Karriereaussichten aus einem Gelegenheitsjob eine Vollbeschäftigung machte und inzwischen in einer Wäscherei als Geschäftsführer den Laden schmeißt, Einblick in sein Leben gewährt. Den Lesern öffnet er sich in seinen Tätigkeiten und Gedanken. Sie werden gewissermaßen zu Hospitanten seines Lebens. Dieses erscheint zunächst wenig ereignisreich - es sind vor allem die von ihm selbst im inneren Dialog formulierten Gedankengänge, die das aufregendste an Warlichs Leben zu sein scheinen. - Zwei Ereignisse aber, nachgerade alltäglicher Natur und als solche nicht unbedingt prädestiniert, jemanden "umzuhauen", sollen ihn sein Leben, seinen Lebensweg, seine Zukunft überdenken lassen. Ausgang offen. Irgendwann blendet das Buch ebenso überraschend, wie es auf diesen Einen unter vielen Menschen fokussierte, auch wieder aus. Der Vorhang schließt sich wieder.

Genazino nimmt seine Leser auf leise Weise mit in das Leben seines Romanhelden, lässt ihn diesen in all seiner Unsicherheit kennenlernen. Er wählt dabei eine fantastische Sprache, welche die Situation von Warlich sprachlich aufgreift, seine Person abzurunden scheint.

Ein großartiges Buch, das ohne Effekthascherei die Frage nach Lebenssinn stellt - und aufzeigt, dass diese Frage nur wenn, dann nur individuell von und für jedem/jeden Einzelnen beantwortet, möglicherweise aber überhaupt nur als lebenslange Suche verstanden werden kann.

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Mittwoch, 29. Februar 2012
Sittenlehre
Disziplin, Züchtigkeit, Regeln, Misstrauen, Pflichterfüllung, Ordnung, Exaktheit, Kontrolle. Es sind Worte dieser Couleur, welche den Gegenstand dieses Buches des argentinischen Autors Martín Kohan skizzieren.
In seinem 2007 erschienen Roman Ciencias morales, der im Deutschen unter dem Titel Sittenlehre bei Suhrkamp verlegt wird, skizziert er das Leben der María Teresa. Die junge Frau arbeitet als Aufseherin am Colegio National, einer überaus strengen und vor Tradition strotzenden Eliteschule in Buenos Aires. Ihr und ihren Kollegen obliegt es, die Einhaltung und Befolgung der zahlreichen Vorschriften, Regeln und Anordnungen durch die Schüler sicherzustellen. Ohne Ausnahmen, ohne Barmherzigkeit, ohne Augenmaß. Es geht um die totale Kontrolle. –

Jenseits der nachgerade hermetisch von der sie umgebenden Stadt abgeriegelten Schule herrscht das Militär, Argentinien wird von einer Diktatur regiert. Man schreibt das Jahr 1982, der Falklandkrieg bestimmt das Leben der Menschen. Auch María Teresas Bruder wurde eingezogen. Dieser meldet sich bei Mutter und Schwester lediglich sporadisch, indem er Postkarten ohne offensichtliche Nachrichten sendet, worin sich die Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit dieses Krieges spiegeln mag.

Als Erzählpersperspektive wählt der Autor die der jungen Aufseherin. Es berichtet aber nicht María in der Ich-Form, sondern der Autor steht gewissermaßen unmittelbar ihr zur Seite, weiß auch um ihre Gefühle und Gedanken – ihre Perspektive wird angereichert mit darüber hinaus reichenden, erweiterten Feststellungen.
Es beruht auf dieser Erzählweise, dass der Bruch zwischen der von María erlebten und der vom Leser erkannten Wirklichkeit gewaltig ist. Es wird alsbald überdeutlich, worum es am Elitegymnasium geht: es dient der jeweils herrschenden Klasse als Kaderschmiede und mithin steht es im Dienst der jeweils herrschenden Elite. 1982 ist dies ein Militärregime, und dessen Auswirkungen auf den Schulalltag – Apelle, Drill, Exerzieren, Gehorsam, Patriotismus – sind unverkennbar.

In diesem Kosmos bewegt sich die junge Frau. María Teresa ist autoritätshörig, verfügt über eine nur geringe Bildung und ist überaus pflichtbewusst. Im wahrsten Sinne des Wortes „eifrig“ tut sie ihren Dienst als Aufseherin und ist bestrebt, keinen Fehler zu übersehen. Insbesondere während der Pausenzeiten hat sie ihrer Pflicht nachzukommen. Hinzu kommen die Überwachung des Ablaufs des Appells, Kontrolle von Haarlängen, Strumpffarben, korrekter Ausrichtung von Augen. Sie stellt somit eines der funktionierenden Rädchen im Schulgetriebe dar, welche in ihrer Summe ein solches System ermöglichen und am Laufen halten. Voller Misstrauen gegenüber den Schülern, sind überall Verstöße gegen die Ordnung zu vermuten. Selbst ein Lächeln gibt zur Frage Anlass, was dessen Ursache und Wirkung, die Motive des Lächelnden sein mögen. Die Ordnung zu erhalten, ist alleiniges Ziel.

In ihrem glühenden Eifer ist es ihr persönlicher Ehrgeiz, sich in den Dienst dieser – oder überhaupt einer – Ordnung und der Korrektheit am Colegio zu stellen.
Es ist ihre Aufgabe, die Ordnung zu garantieren, und diese Ordnung bietet ihr Sicherheit und Existenz, mithin Halt. Diesen findet sie weder bei ihrer Mutter noch bei ihrem Bruder. Ihr unbedingter Wille zur Pflichterfüllung verbindet sich zusätzlich mit dem Drang nach Anerkennung. Diese sucht sie bei ihrem Vorgesetzten, dem Oberaufseher Biasutto. (Von dessen Vorgeschichte ist lediglich bekannt, dass er ehedem ‚Listen zusammenstellte‘. In der Geschichte Argentiniens Auskunft genug, dass es sich um einen Schergen des Regimes handelt, das zahllose Menschen ‚verschwinden‘ ließ.) Um diesen zu beeindrucken, wagt sie einen für sie großen Schritt und betritt unbekanntes Terrain: den Toilettenraum der männlichen Schüler. Sie tut dies, um dort – versteckt in einer Kabine – einen Schüler inflagranti des Rauchens zu überführen. Nahezu besessen von diesem Gedanken verbringt sie zunehmend mehr Zeit dort; der Fokus des Buches wie auch der ihrer Existzenz verengen sich hierauf. Zugleich erweitert sich an diesem (Ab)Ort ihr Horizont, erwachen in ihr voyeuristisch-sexuelle Gefühle.

Es ist schließlich aber auch der Ort, an dem sie selbst Opfer ihres falschen Pflichtgefühls und ihrer Autoritätsgläubigkeit, ja, ihrer Autoritätshörigkeit wird.
Ohne diese Vorbedingungen, so die den entsprechenden Szenen immanente Aussage, kann kein Obrigkeitsstaat funktionieren. Der Autor ist hierin nicht zynisch, vermag aber aufzuzeigen, dass diejenigen, die der Macht als schwächstes Glied dienen, just in ihrer Pflichterfüllung häufig größter Schutzlosigkeit und damit Willkür, der Gefahr der Vernichtung ausgeliefert sind – wie eben María.

Das Ende der Diktatur, das Ende des Krieges wird von Kohan auf gänzlich unspektakuläre Weise, aber durchaus prononciert in seinem Roman verarbeitet: Wiewohl ein ganzes System sich ändert, ein Wandel sich vollzieht, zeigt er, dass dies nicht zwangsläufig zu irgendeiner Form gründlichen moralischen Reinemachens führt: Ein System verschwindet; es wird durch ein anderes ersetzt. Nach der Niederlage der Armee wird die Schule für wenige Tage ohne weitere Erläuterungen geschlossen. Bei ihrer Wiedereröffnung stellt man fest, dass alle Angehörigen der Schulleitung ausgetauscht wurden. Die Führungselite ist ins Unbekannte verschwunden. Die sich aufdrängende Frage nach dem Wohin lässt Kohan unbeantwortet – und macht so umso deutlicher, dass sie aus diesem unbekannten Ort jederzeit wieder hervortreten können.

Martín Kohan hat einen großartigen Roman geschrieben. In seiner zuweilen technokratisch, emotionslosen Sprache mutet der Roman immer wieder als sprachlicher Ausdruck von Horror, geistiger Enge und Systemglauben an. Er führt mit seinen Beschreibungen von Regeln, Situationen und Orten vor Augen, dass es bei María Teresa letztlich eben nicht um ein freies Individum, sondern um eine Gefangene eines Systems geht. Damit macht Kohan nicht die unmittelbaren Opfer der Tyrannei zum Thema seines Buches, sondern die Frage nach den Umständen und Vorbedingungen, auf denen die Herrschaft der Militärs ruhte. Er spürt dieser Frage nach, indem er nicht vom System auf die Menschen schließt, sondern anhand eines sehr kleinen, aber doch individuellen Gliedes in dessen Kette die menschliche Natur zu erfassen sucht.
Er interessiert sich für María als Frau mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten, die in naiver Weise das Geschehen um sie nicht hinterfragt, wiewohl sie hie und da zu erahnen scheint, dass nicht gut ist, was ist. Sie erscheint darum auf plausible Art als einfache, aber für das System unabdingbare Mitläuferin. In diesem Charakter klagt Kohan nicht an, aber er zeigt auf, wie schnell aus Mitläufern und Opportunisten Opfer werden können. Es ist jeder Leserin und jedem Leser überlassen, hieraus eigene Schlüsse zu ziehen. Den moralischen Zeigefinger bringt der Autor zu keiner Zeit an.

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