Montag, 7. Februar 2011
Nachtgestalten
Immer mal wieder verschlägt es OSKAR in dieses Bistro, das so nett praktisch gleich bei ihm um die Ecke an einer Ecke verkehrsgünstig gelegen, aber nicht vom Verkehr umtost eine Oase der Entspannung und gemütlicher Abende ist. Vorzugsweise von Publikum frequentiert, das sich aus leicht angegrauten Studienrätinnen und Studienräten, übriggebliebenen Berufsachtundsechzigern sowie sich selbst irgendwie auch ein Stück weit alternativ bezeichnenden Menschen zusammensetzt. Die Karte ist gut, die Preise akzeptabel, das Personal freundlich die Atmosphäre entspannt. Ein idealer Ort also, um dort gelegentlich und insbesondere mit solchen Menschen aufzuschlagen, mit denen man einen gemütlichen Abend verbringen will.

So war denn auch OSKAR gestern einmal mehr im Wahl-Lokal, und gemeinsam mit seinem Gast diskutierte und philosophierte er, was das Zeug hielt. Angeregt. Die Lautstärke im französisch anmutenden Bistro war enorm, denn offenbar auch alle anderen Gäste, die im Übrigen einander fast auf dem Schoß sitzen, so eng stehen die Tische nebeneinander, führten intensivste Gespräche und berieten wahlweise, ob überhaupt und so ja, wie denn dann wohl am besten die Welt zu retten sei oder man besprach die Weltrevolution.
Irgendwann, der Fisch war gegessen, der Grauburgunder getrunken und auch das Dessert war längst verzehrt, fiel OSKAR und seinem Begleiter auf, dass sie nunmehr die einzigen Gäste waren. Übriggebliebene. Der Entschluss, sich auf den Weg und dann das Bett zu machen, war bald gefasst. Während der Besucher M. sich noch einmal schnell in Richtung 00 davonmachte, blieb OSKAR sinnierend zurück, dabei eine Gestalt ins Auge nehmend, die just ihren Fuß über die Schwelle und ins Lokal setzte. Ein großer, hagerer Mann, der von einem gewaltigen Mantel umflattert wurde. Sein Kopf umwölbt von einer grauen Mähne, deren Haare in alle Richtungen zu fliehen bestrebt waren, sein Augen umrundet von einer poppigen Brille, die an Ilona Christen erinnern ließ. OSKAR sah zwar, dass er sprach, doch er hörte nicht auf die Worte oder gar die Bedeutung.

Aus seinem Sinnen wurde OSKAR erst gerissen, als er merkte, dass sich ihrer beide Augen offenbar getroffen hatten und dies der Fremde zum Anlass zu nehmen schien, geradeweg mit langen Schritten das kurze Lokal zu durchmessen, abrupt stehenzubleiben, sich einen Stuhl zu greifen und sich Aug' in Aug' OSKAR gegenüber zu setzen: " [...] letzten Endes ist es das, was zählt." Mehr hörte OSKAR nicht, doch diese Worte fanden Eingang in sein Hirn. Wohl einen Moment zu lange verharrten seine Augen auf der Nachtgestalt, denn als sie sich abwandten und OSKAR zwar bei sich denkend, was jenen wohl umtreibe, dann aber doch bald wieder seine Gedanken auf das lange dem Fremden vorausgegangene Gespräch lenkte, unterbrach dieser ihn jäh. Mit bestimmendem Tonfall, eine Mischung aus Empörung und Verletztheit richtete er seine Rede an OSKAR: "Warum haben Sie nicht reagiert? Ich habe gesprochen. Sie hätten geschockt sein können. Verärgert. Sie hätten mich auf Werder Bremen ansprechen können. Es ist Abend. Es ist Evolution!" OSKAR wurde klar, dass er kein Interesse an längeren Gesprächen mit diesem Menschen hatte. Nicht jetzt, aber wohl auch sonst nicht. Er antwortete knapp, dass er sich nicht verpflichtet sieht, auf alles, was um ihn ist, verbal zu reagieren, alles zu kommentieren. Es sei schon genug Rede. Und da er nicht gesprochen habe, möge der Fremde dies als Reaktion genug ansehen. - Nach einem kurzen Moment des Stutzens stand jener auf, rückte den Stuhl an seinen ursprünglichen Platz, schritt zu einem - offenbar - Stammplatz und versenkte sich in die nitgebrachte Zeitung. Die Bedienung lächelte, der Küchenjunge feixte.

Sein Gast und er verließen unmittelbar, nicht deswegen, sondern weil es Zeit für sie war, das Bistro. OSKAR sollte häufiger des Abends sich den anderen Menschen zuwenden. Es gibt viel zu erleben.

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