Montag, 15. Februar 2010
Wie durch ein Nadelöhr
In den vergangenen zehn Jahren wurden sie zum Glück stärker als zuvor ins Bewusstsein gerückt: Zeugen, die der Fratze des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts ins Gesicht hatten sehen müssen, Leid, Tod, Hunger und Schrecken erfahren hatten. Jede und jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte, die zu erzählen manche von ihnen nicht müde werden. In unzähligen Gesprächen im Familien- oder Bekanntenkreis, bei Besuchen in Schulen oder in Jugendgruppen erzählten sie ihre Geschichte, die so sehr Teil ihrer eigenen Biografie ist. Abseits der Kriegsschauplätze oder der großen Daten, die es ins kollektive Gedächtnis schaffen und in die Kalender der, mit Verlaub, Gedenkindustrie, sind es gerade diese individuellen Erfahrungen, die denjenigen, die eben nicht dabei waren, das Leben jener Zeit näherbringen und veranschaulichen helfen, wie "es denn nun damals gewesen war".

Diese Menschen sterben allmählich, aber es ist ihr Verdienst, nicht (nur) mit moralischen Zeigefingern erzählt, sondern vielmals auch in Essays, Artikeln oder Büchern ihre Biografien und Erlebnisse festgehalten zu haben. Eines dieser Bücher wurde von Carlotta Marchand geschrieben: Wie durch ein Nadelöhr. Erinnerungen einer jüdischen Frau.
Carlotta Marchand, 1918 in Belgien als Tochter ungleicher Elternteile geboren und in Den Haag aufgewachsen, ging als jüdisches Kind zur deutschen Schule und erlebte alsbald erste Repressalien, später dann die Deportation ihrer Familie. Sie selbst überlebte im Versteck. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2007 engagierte sie sich gegen das Verdrängen und Vergessen; insbesondere besuchte sie Schulen im deutschsprachigen Raum.

Carlotta Marchand hält in ihrem Buch, Originaltitel: Door het Oog van de Naald einerseits Rückschau auf ihr Leben, andererseits kommentiert sie die eigene Vergangenheit und Gegenwart zuweilen heiter, meist aber lakonisch, trocken, nicht selten mit bissiger Ironie. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sollte es 35 Jahre dauern, ehe sie sich an die Niederschrift ihres Manuskripts wagt; nicht zuletzt ausgelöst durch Fragen nach Identität, Lehren aus der Vergangenheit, ihrem Verhältnis zu allem, was 'deutsch' war/ist...

In 34 Kapiteln, jeweils zwischen zwei und fünf Seiten, wirft sie Schlaglichter auf ihr Leben. Neben einem knappen Abriss ihrer Familie und Kindheit richtet die Autorin ihr Hauptaugenmerk auf ihre Erlebnisse unter der braunen Besatzungsmacht. Die Deportation ihrer Eltern, ihr Untertauchen, die innige Beziehung zu ihrem Ehemann. Carla Marchand schreibt im niederländischen Original schlicht, nüchtern, treffend, dabei immer ihre subjektive Sicht vermittelnd, nicht aufdrängend. Das Ende des Buches, und das ist das große Verdienst, welches dieses Buch so besonders macht, liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft: mit derselben scharfen Feder, mit der sie über ihre Kriegs- und Verfolgungsgeschichte schreibt, zieht sie die Linie bis in die Gegenwart, das heißt bis ins Jahr 1981 (Erstausgabe). Sie berichtet von ihren Erfahrungen als Zeitzeugin in den Niederlanden und Deutschland, beschönigt nichts, verhehlt auch nicht, dass sie den Deutschen vielfach - und in gewisser Weise leider zurecht - nach wie vor misstrauisch gegenüber tritt. Dennoch, oder gerade deswegen, sieht sie sich in der Pflicht, auch in Zukunft weiter zu berichten, zu erzählen, zu offenbaren, gegen das Vergessen anzugehen. - Nach ihrem Tod bleibt ihr Buch als starkes Stück, das weit mehr ist als Mahnung. Es ist ein Aufruf zu Menschlichkeit und gegenseitigem Respekt!

... comment